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[ MEIN LEBEN — MEIN DOM! ]

Man kann die Frage stellen — und man muss gar nicht hinzufügen: „Diese Frage muss erlaubt sein!“ Denn die Fragen, die man jederzeit und ungestraft stellen kann, sind es ja, die immer erlaubt sind, wodurch es just solche Fragen sind, die eigentlich zwecklos sind — man kann also „natürlich“ die Frage stellen: Wozu soll der Dom am Fuße des Kulm gut sein?
Ersetzen wir einmal den Kulm durch Wien, Köln oder Mailand, und wir sehen augenblicklich, dass eine solche Frage nicht so natürlich ist, wie sie scheint:
„Wozu soll der Dom in Wien gut sein? Wozu braucht Wien den Stephansdom?“
Diese Frage wirkt befremdlich, um nicht zu sagen verrückt. Warum eigentlich? Ich will darauf bestehen, eine Antwort zu bekommen. „Wozu ist der Stephansdom gut?“
Ich versuche mir vorzustellen, wie einer, der die Frage „Wozu soll der Dom am Kulm gut sein? “ ganz selbstverständlich findet, nun meine Gegenfrage, die ihm verrückt erscheint, zu beantworten versucht: „Der Stephansdom ist ein Gotteshaus! Ein großartiger sakraler Raum! Die Menschen wollen und brauchen einen Raum, in dem sie sich versammeln und zu Gott beten können, das ist der Zweck dieses Doms, und mit diesem Dom haben sie Gott die größtmögliche Ehrerbietung dargebracht, das ist der Sinn seiner Größe!“

Nun gut, sage ich, aber ist es nicht ein Zeichen von hoffentlich überwundener Barbarei, dass für Gott, also für ein unbewiesenes Wesen, riesige Häuser gebaut wurden, während die Mehrzahl der Menschen nicht ausreichend Wohnraum hatten, viele nicht einmal ein dürftiges Dach über dem Kopf? (Ich weiß schon, dass diese Frage kindisch ist, „aber sie wird doch erlaubt sein“!) Und muss ein sakrales Gebäude so pompös im Zentrum einer hoffentlich aufgeklärten, also säkularisierten Stadt stehen? Und ist es nicht eine Zumutung für alle, die diesen Dom nicht nutzen, also für die Mehrheit, dass solch enorme Geldmittel aufgewendet werden müssen, um diesen Dom zu erhalten? Wie oft, frage ich mein fiktives Gegenüber, gehst Du in die Messe, wie oft warst Du zum Beten im Stephansdom?
Schweigen.
Wenn der Dom also für dich keinen unmittelbaren Nutzen hat, sage ich, warum bist du dann der Meinung, dass Wien ihn braucht, was ist deiner Meinung nach der objektive Nutzen?
Nun lächelt mein Gegenüber, denn nun hat er Argumente, die er für unschlagbar hält: es ist unerheblich, sagt er, ob ich selbst diesen Dom aufsuche und ihn sozusagen „benutze“, und es ist unerheblich, dass die Welt und sogar Wien mittlerweile säkularisierter ist als damals, als dieses Gotteshaus gebaut wurde, denn: der Stephansdom ist von enormer kulturgeschichtlicher Bedeutung, er ist ein großartiges Kunstwerk! Und ein Kunstwerk hat seine Funktion auch in einer säkularisierten Welt!

Das ist ein gutes Argument, sage ich. Und mein Gegenüber setzt fort: Wien ist eine Weltstadt, ein Zentrum, und im Zentrum dieses Zentrums steht der Dom, und Menschen kommen von überall her, um ihn zu sehen und —
Danke, sage ich, du hast wunderbar begründet, wozu der Dom gut ist. Er ist ein Kunstwerk. Ein Kunstwerk muss keinen unmittelbaren Zweck haben, es produziert Sinn. Es hat Funktion auch im Wechsel der Zeiten. Warum soll das für einen Dom am Fuße des Kulm nicht gelten? Der Dom ist von kulturgeschichtlicher Bedeutung, warum soll das nicht auch für den Dom im Kulmland gelten - als zeitgenössische Antwort auf die kulturgeschichtlich bedeutsamen Dome: der Kulmer Dom ist der Dom einer säkularisierten Welt, in der wir als Zeitgenossen einen erhabenen Raum errichten wollten, der unsere Sehnsucht nach Größe, Erhabenheit und Würde ausdrückt. Und: Du sagst, Dome stehen im Zentrum der Zentren? Der Stephansdom wurde errichtet, da war Wien ein Provinznest. Der Dom war zunächst nur eine Ansage: Hier soll ein Zentrum sein! Und der Kulmer Dom? Er ist genau diese Ansage! Weil er in einen Raum einlädt, in dem jeder sagen und begreifen kann: Das Zentrum ist hier, wo wir leben, das Zentrum ist, wo wir sagen, dass unser Zentrum ist. DAS LEBEN IST NICHT ANDERSWO!
Die Frage „Wozu soll der Kulmer Dom gut sein?“ ist also durchaus erlaubt. Aber nur, wenn man sich ein Denkverbot auferlegt!
Komm´, werde ich mein fiktives Gegenüber einladen, wir wollen den Kulmer Dom besuchen. Wir werden in einen Raum eintreten, der uns nicht abverlangt, einem HERRN zu huldigen, um uns dann gleich zu sagen: nein, nein, das war nur geschichtlich so, jetzt ist es nur noch Kunst. Wir werden in einen Raum eintreten, der Kunst ist ohne diesem „nur noch“! Wir werden uns in einem Raum befinden, in dem wir selbst die Herren sind — unseres Schicksals, unseres Lebens, unserer Ansprüche auf Größe und Schönheit, unseres Lebensortes: HIER! Es kann für Lebende kein anderes Zentrum geben, als ein grundsätzliches HIER!
Und jetzt hast Du in der Obdachlosigkeit deiner Zeitgenossenschaft
hier
ein Dach über dem Kopf!

Robert Menasse, 01.September 2011, zur Eröffnung des DOMES



[ Suada für die suburbane Subversion ]

Um 19.00 Uhr, hatte Frankenberger gesagt, werde Fiala mit seiner Vorlesung beginnen. Im so genannten „Fladererhaus“, nachdem zuvor schon Kratner „einführende Worte“, wie auf der Einladungskarte angekündigt war, gesprochen hatte. Tatsächlich hatte Kratner von „Suburbia“ geredet. Man befinde sich hier nämlich in „Suburbia“, und schon lange, hatte Kratner gesagt, setze sich der Verein K.U.L.M. mit dem Phänomen „Suburbia“ in seiner Akademie und seinen Veranstaltungen zur Kunst auseinander. Suburbia, so Kratner, sei im 19. Jahrhundert mit den Außenbezirken der großen Städte identifiziert worden, während die Bezeichnung vom lateinischen „suburbium“ stamme, das die Unterstadt bezeichnete, die von der gut bestallten Bürgerschicht gemieden worden sei. In den vereinigten Staaten von Amerika wäre nach dem Zweiten Weltkrieg ein Bauboom entstanden, „Buum“ hatte Kratner gesagt, infolge dessen es einer Arbeiterschicht möglich geworden sei, aus ihren im Umkreis der Stadt gelegenen neuen Häusern vermittels neu angelegter Zugverbindungen in die „Sitties“, hatte Kratner gesagt, zu pendeln, um dort ihrer Arbeit nachzugehen.

„Nach-gehen“, hatte mir Frankenberger einmal gesagt, man müsse der Kunst nach-gehen, auf dem Land und um den Kulm, „auf den Kulm!“ müssten wir gehen, um das Land zu sehen, in dem der K.U.L.M.-Verein der Kunst nach-geht. Nur so, so Frankenberger, würden wir vielleicht einmal verstehen, was die Kunst denn sei, die hier am Land entsteht. Aber, hatte Frankenberger auch gesagt, da könne man noch lange gehen und Wege finden, von denen man hofft, dass man, wenn man sie geht, einmal die Kunst verstehen wollte. So habe er vor langer Zeit schon einmal versucht, einen Kult.Ur.Weg anzulegen, um die Leute von „Suburbia“ wie es später dann genannt wurde auf diesem Weg zur Kunst zu führen. Die Jäger aber, hatte mir Frankenberger erzählt, hätten sich da „quer gelegt“. Durch deren Liegenbleiben sei dann nichts mehr gegangen und man habe neue Wege finden müssen, sich der Kunst zu nähern. Dann sei, hatte mir Frankenberger gesagt, die Stiege Nomadin gebaut und auf ihren mäandrischen Weg geschickt worden, der letztlich zum Rastplatz K.U.L.M. an der B54 führte. Von dort und von der Aussichtsplattform der Nomadin kann man nun über das Land auf den Gipfel des Kulm sehen. Dorthin sei, statt gleich in den so genannten Kulturstock K.U.L.M in Pischelsdorf zu kommen, einmal der Kulturjournalist Trenkler gefahren in der Meinung, er werde dort, auf dem Gipfel des Kulm, ein Symposion des K.U.L.M-Vereins moderieren, während man in Sichtweite, im so genannten Kulturstock, auf ihn gewartet hatte ... Es ist ein Mäandern, dem Laufen eines und dem Bild des so genannten Laufenden Hundes gleich, wie sich der K.U.L.M-Verein durch das Land und im wieder Aufnehmen früherer Themen unter neuen Voraussetzungen dem Vorangehen künstlerischer Arbeit widmet. Wie es Vico als ricorso beschieben hat, der zu beobachten sei an allem, dass sich über die Zeit erneuert und dann zu Neuem wird und wie es schon viel früher Fibonacci in seiner Reihe ausgedrückt hat, die Spirale und den Goldenen Schnitt beschreibt oder wie man in diesem Land zu solcher Art der Bewegung sagt, zwoa Schritt' viri und oan z'ruck.

„Eine Ausstellung“, sei das im so genannten Fladererhaus, „kein Theater“ war auf der Einladungskarte zu lesen. Und nachdem Frankenberger in diesem Rohbau mit Dach, dem Fladererhaus, das Publikum begrüßt hatte, darunter Künstlerinnen und Künstler, die ihre Arbeiten hier präsentierten respektive als Bewohner(innen) von Suburbia sich auf einer großformatigen Fotografie versammelt zeigten und so sich selbst in einem Kunstwerk ausstellten, hatte Frankenberger gesagt, der Philosoph Fiala werde pünktlich um 19 Uhr im Auditorium des Fladererhauses seine Vorlesung halten. „Pünktlich“ werde er also beginnen und als ich mich dann ins Auditorium setzen wollte, um die Vorlesung zu hören und den Philosophen Fiala zu sehen, saß da auf einer kleinen Bühne, einen Scheinwerfer auf sich gerichtet, Fiala und hatte schon begonnen „vorzulesen“, nämlich wirklich und kommentarlos vorzulesen, sofern man seine knappe Einleitung, er werde jetzt aus Adornos Ästhetische Theorie, aus Luhmanns Die Kunst der Gesellschaft und aus Lyotards Essays zu einer affirmativen Ästhetik vorlesen, nicht schon als Kommentar verstanden haben sollte, wobei es von Letzterem auch Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens gewesen sein könnte. Platz nehmen wollte ich im Auditorium, das Frankenberger eingerichtet hatte, aber ich musste feststellen, dass die nach hinten ansteigenden Sesselreihen, die nahezu den ganzen Raum ausfüllten, eine Installation waren, Kunstwerk auf jeweils von filigranen Holzlatten verlängerten Sesselbeinen, wodurch auf den Sesseln niemand Platz nehmen konnte, Sessel, die die Bewohnerinnen und die Bewohner von Suburbia herbeigeschafft und Frankenberger zur Verfügung gestellt hatten, damit er seine Installation einrichte, auf der dann aber niemand Platz nehmen können sollte. Derweilen Fiala also las, erwies sich seine Vorlesung als performative Lesung aus kunsttheoretischen Texten, die, wie mir schien, so vorgelesen, ohnehin kaum zu begreifen sind. Mehr noch, hatte ich doch selbst schon vor längerer Zeit versucht, diesen Adorno, diesen Luhmann, diesen Lyotard zu lesen und hatte jeweils aufgegeben, weil ich mir gedacht hatte, diese Texte seien derart aus den Denk- und Formulierungsweisen dieser Autoren angelegt, dass ich mich mühen könnte wie ich wollte und sie blieben doch für mich hermetisch. Dieser Adorno, dieser Luhmann, dieser Lyotard wären schon zu Lebzeiten darauf bedacht gewesen, mich aus ihren Texten auszuschließen, mich an ihren Denkweisen nicht teilhaben zu lassen, hatte ich mir gedacht, wie es der Philosoph Fiala und sein Kombattant Frankenberger in diesem Arrangement mit mir und dem Publikum, wie zur Bestätigung, nun ein weiteres Mal vornahmen, indem das Auditorium so eingerichtet war, dass niemand Platz zu nehmen imstande war, ja nahezu der Zutritt zu dem Raum verwehrt blieb und Fiala aus Texten vorlas, denen geistig zu folgen niemand in der Lage war. Dem gegenüber sah ich mich erinnert an Barthes Der Krieg der Sprachen, in dem dieser vom Ausschließen des Empfängers schreibt, gegenüber dem machtvoll geschlossenen Satz, dem in seiner assoziativen Redundanz nach außen verschlossenen Text, wie er in der psychoanalytischen Theorie, so Barthes, gepflegt werde, um die Erwiderung eines Empfängers, eines Lesers von vorneherein unmöglich zu machen. Und wie auf einem schwarzen Bild in weißer Schrift im anderen Raum zu lesen war, hatte Fiala gewissermaßen schon ein Sakrileg begangen, indem er gefragt hatte, vielmehr behauptet hatte, und weil jetzt permanent im Bild, immer noch fragt und behauptet, Ist Kunsttheorie nicht weniger verständlich als die Kunst selbst?! Weil etwa dieser Adorno, der den Jazz verachtete, geschrieben hatte, Der Versuch, die historische Genese von Kunst unter ein supremes Motiv ontologisch zu subsumieren, verlöre notwendig sich in so Disparates, dass die Theorie nichts in Händen behielte als die freilich relevante Einsicht, daß die Künste sich in keiner bruchlosen Identität der Kunst sich einordnen lassen (...). Text, den man nach seinem Tod 1969 als Ästhetische Theorie editiert hatte und der hier, in einem Auditorium als Installation, gelesen wurde. Was ist Kunst? Was ist Kunsttheorie? Wer rezipiert Kunst auf welche Art und Weise? fragt dagegen der K.U.L.M-Verein immer noch, hier in Hart und in Suburbia, auf dem Land, wo es auch, wie Gombrich schrieb, genau genommen die Kunst nicht gibt, es gibt nur Künstler — und damals schon hatte Gombrich damit gemeint, es gebe auch Künstlerinnen, naturgemäß.
Während Fiala gegenüber dem Raunen der wenigen Zuhörer, die sich im schmalen Gang zwischen den Raum einnehmenden Sesselreihen und der unverputzten Hohlziegelwand eingefunden hatten, unbeirrt vorlas, drangen vom Nebenraum die Ansagen und Kommentare der Schnapser-Runde vom so genannten Tschimperl-Club herein, ein Männer-Verein, der, auf Klapptischen und Bänken sitzend, inmitten der Bewohner(innen) von Suburbia ein Bummerl nach dem anderen in ihrem Kartenspiel klopften. Hart nämlich, ganz wie dieser Vorort von Pischelsdorf heißt und die Ausstellung H art, die kein Theater war, vielmehr mit heart und Hirn angelegt und mit Kunstwerken ausgestattet war, wie man sie hier nicht gleich vermutet hätte. Bummerlzähler hatte der Tschimperl-Club sein performatives — wie man uns in der Kunstbetrachtung inzwischen nahezu zwingt, ein Handeln vor Publikum zu nennen — Karten Spielen genannt, während die Kartenspielerinnen vom Verein Hosn owi ihre Hosn owi Stammtisch-Puppe im selben Raum vielleicht gar nicht als Kunstwerk verstanden wissen wollten. Und „heli“, wie Helene Neumayer bei den Bewohnerinnen und Bewohnern von Suburbia genannt wird, stellte im unverputzten Fladererhaus ihr Kunsthandwerk den Ideen der Künstlerinnen und Künstler zur Verfügung, indem sie in gar nicht lähmendem Kreuzstich Deckerln stickte, nach Sätzen, wie sie ihr zum Beispiel M.W. gesagt hatte,
Der Straßenlärm von Heute
mimt den Götterzorn von Gestern
die Ruhe fand in der Zukunft statt.
Und wie der Philosoph Fiala, wie der K.U.L.M-Verein, fragt heli selbst auf einem Stickdeckerl, wo denn die Kunst was sei,
...
wenn's di ba da Kunst
ausKunst is ka Kunst
Kunst die nit aus
is a a Kunst
Kunst is Kunst
Kunst die aus?

Noch als Kratner seine Vorrede zu Suburbia gehalten hatte, noch bevor Fiala mit seiner Vorlesung begonnen hatte, war mir eine Fotografie aufgefallen, von der ich mir gedacht hatte, schau, ganz wie Wurm. Und schon da war ich erinnert an die Kalamitäten, von denen mir Deutschbauer und Spring einmal erzählt hatten, nachdem sie ein Plakat mit Wurmfortsatz betitelt und das sie in der Wiener Secession gezeigt hatten. Darauf zu sehen ist die Fotografie, in der der Spring anscheinend seinen Schädel dem Deutschbauer in dessen Bauch rammt. Daraufhin erging ein Brief von Wurms Rechtsanwalt an Deutschbauer und Spring mit der Androhung einer Unterlassungsklage, sofern sie nicht ... Wenig später aber stellte sich für mich heraus, dass es sich bei der Fotografie im Fladererhaus um einen echten Wurm handelte, auf der outdoor sculpture taipeh zu sehen ist, und das nicht in der Wiener Secession oder im Privatraum eines Sammlers, sondern hier im so genannten Fladererhaus in Hart. Und später, während der Vorlesung von Fiala war ich erinnert an einen Disput, den ich mit dem Anwalt für Urheberrechtsfragen Beck in Graz gehabt hatte. Zu Beck hatte ich damals gesagt, Ja, und wenn ich in einer Öffentlichkeit und unentgeltlich aus Bernhard vorlesen würde ... Worauf Beck mich unterbrochen hatte und echauffiert gerufen hatte, Nein, das dürfen Sie nicht, andernfalls machten Sie sich strafbar. Fiala, dachte ich mir, liest, ohne zu kommentieren, aus Adorno und aus Luhmann und aus Lyotard, wenngleich ein Publikum nahezu ausgeschlossen werden soll, sich aber doch irgendwie in den Raum drängt, wenngleich unentgeltlich, und doch ist der Ort, das so genannte Fladererhaus, nicht zu vergleichen mit einem Hörsaal in der Universität, in dem Fiala ja auch Vorlesungen hält — ja darf er das denn, habe ich mich gefragt. Über das Nichtdürfen aber und darüber, was andernorts die Kunst genannt wird, was gegenüber dem K.U.L.M-Verein der Dozent Ullrich einmal als Nicht-Kunst verhandelt hatte, triumphiert man hier im nicht verputzten Fladererhaus, weshalb die achtzigjährige Sommerhofer eine Türlaibung mit einer Efeu-Girlande zum Triumphbogen erhoben hatte.

Als ich vor diesem Rohbau mit Dach Wilflings Kulm mit Brille gesehen hatte, eine Nachbildung des Kulm als Grashaufen und auf dessen Gipfel eine Sonnenbrille, augengleich wie man sagt, nur kleiner und im Vordergrund des wirklichen Kulm-Berges, dem das Militär inzwischen eine schwarz glänzende Radarüberwachungsstation aufgesetzt hatte, waren nun beide, der Kulm mit Brille und der Kulm mit Radarstation, geschuldet der perspektivischen Sicht, zu sehen wie der Berg und sein Simulakrum, hätte Baudrillard vielleicht geschrieben, so er den Kulm respektive den K.U.L.M.-Verein beziehungsweise den Kulm mit Brille noch kennengerlernt hätte. Und während damals, an jenem Abend der Ausstellung im so genannten Fladererhaus, die kein Theater war, an der Nomadin genannten Stiege, am nahe gelegenen Rastplatz K.U.L.M. an der B54, die Bauelemente einer ehemaligen Radarstation zur Errichtung des so genannten Doms der Zeit, Frankenbergers Initiative eines, wie er es genannt hatte, „Gegenraumes“ in einer „Gegenzeit“, einstweilen deponiert waren, kann man von da, wie gesagt, auf den Gipfel des Kulms sehen und dort die wirkliche Radarstation, deren Funktion jener einer Brille gewissermaßen gleichkommt.

Und neben Wilflings Kulm mit Brille stand an besagtem Abend Fladerers Kunst-Waage in einem Kreidekreis, mit dem die Aufmerksamkeit erst auf das Kunst-Werk, damit auf das Werk-Zeug als Kunst-Zeug, auf Fladerers Werk gerichtet wurde. Abgelegtes Zeug nämlich sei das Kunst-Werk, hatte hier vor Jahren schon einmal Brock gesagt, nämlich wie Beuys — wahrscheinlich mit Heidegger — es gemeint hatte, hatte Brock damals gesagt, dass auf seinem Weg der fortschreitenden Entwicklung, hin auf ein nicht abzusehendes Ziel, der Künstler das Werk wie Zeug, und mag es Werk-Zeug gewesen sein, unterwegs also ablegt. Was wiegt die Kunst, mochte man sich, naheliegend, fragen, während die Waage, immer schon und noch bevor sie Kunst-Werk geworden war, selbst so viel wiegt, dass Fladerer ohnehin so einfach nicht in der Lage gewesen sein dürfte, das Werk-Zeug von hier weg zu schaffen, weshalb er, vermittels seines Kunst-Sinns, damit und daraus ein Kunstwerk schuf.

Wenzel Mraček, zu "Hart" - Eine Ausstellung, kein Theater, 01.10.2010



[ Hart 2010 ]

Walter Kratner_ein gesprochener Text
frankenberger_fiala_wilfling_suburbia

Meine Damen! Meine Herren!
Meine Herrschaften! Kein Theater! Bitte! Meine Herrschaften! Bitte! Einführende Worte!
(Eine Stimme, die begrüßt:)
„Willkommen zum Projekt „Hart“. Eine performativ-diskursive Intervention im Fladererhaus von Richard Frankenberger mit Erwin Fiala, Markus Wilfling, Kulm und den Bewohnern / Bewohnerinnen von „Suburbia“. (Pause)

Auf das haben wir gewartet: Endlich „Suburbia“ zu werden! How do you spell? Suburbia and Architecture?
„Vorstadt!“
Die amerikanische Vorstadt wurde auf Long Island erfunden. Gleich nach dem großen Krieg –zwischen 1947 und 1950 – baute die Firma "Levitt and Sons" die erste Vorstadtsiedlung auf einem Kartoffelacker, der ungefähr eine halbe Autostunde von der Stadt New York entfernt war. Das Bauprinzip war einfach: Betonfunda- ment gießen, Haus drauf stellen, fertig. Im Juli 1948 hatte die Firma eine schier unglaubliche Produktionsrate erreicht – 30 Häuser pro Tag. Das Ergebnis wurde dann "Levitt town" genannt. Es stand den kritischen Geistern Amerikas schon bald als immergrüne Metapher für alles, was „Suburbia“ ihnen verdächtig machte: Spießertum und Konformitätsdruck, nicht zuletzt auch Rassismus. Denn selbstverständlich galt anfänglich eine "whites only“- Politik. – Schwarzen wie Juden war es in den Fünfzigerjahren verwehrt, hier ein Häuschen zu erwerben.
(Eine Stimme, die versucht zu erklären, zu korrigieren:)
Diese historische Rückblende können Sie sich ersparen! Hart bedeutet Oststeiermark. Und Suburbanität bedeutet bei uns noch immer die funktionale Verflechtung zwischen Kernstadt und Umland. Sprich: den Um- landgemeinden. Sprich: mit uns! Rassismus gibt es keinen! Wenn sie das meinten? Extreme, rechte Politik ist Vergangenheit! Spießertum und Konformismus obsolet. Wir sind – lächelnde – aufgeschlossene Bürger!
(Pause)
„Tja, Hart liegt prominent positioniert in der Königsklasse der Reizunterflutung.“ (Pause)

Bitte! Es gibt Kunst in unserem suburbanen Lebensraum. Bei uns wird die Kunst gewogen! – Gramm für Gramm! – Ist endlich messbar! Und ich sage Ihnen: Sie wiegt schwer. Sie wiegt sehr schwer! Und ich sage Ihnen auch: Um für das Gewicht dieser Kunst Platz zu schaffen, mussten wir den Begriff „Vorstadt“ erweitern. Weit erweitern! Immer weiter erweitern! Und es ist uns gelungen: Heute blicken wir mit Markus Wilfling –über den „Kulm“, auf den „Kulm“ hinab – auf diese neue, unendliche, kakanische Weite!
(So nebenbei:) Dadurch wird das Ganze vielleicht auch etwas kontrollierbarer!

Was gibt es Neues?
Kunst und Leben. Beziehungsweise die Durchdringung der beiden Sphären bildet das Leitmotiv. (Pause)

„Auch wenn die Herrschaften dort drüben noch immer Karten spielen! Ein Spiel im Spiel oder vielleicht auch nur eine leicht entrückte Gasthaus-Realität. Wer weiß?“

Das Material, das Personal, die Akteure der Suburbanisierung sehen Sie jedenfalls hier! Richard Frankenberger hat uns zusammengestellt – zu einer Ausstellung nach wahren Begebenheiten: Fotografien, filmische und textuelle Elemente, Interviews. Gestricktes, Gehäkeltes, Stich um Stich. Leitsätze für feinfühlige Naturen. Aquarelliert wurde nach vorgegebenen Motiven. Abgebildet, abgelichtet. Die Schaumrolle. Das Efeugebinde. Auf einer Stiege. Nein! Auf der Stiege, schlechthin! Mit Sonnenschirm oder im Regen. Im Leuchtkasten.
Dazu: 49 freie, unbesetzte Stühle aus dem Besitz der Vorstadtbewohner. (Pause) – „Dort sitzen die, die immer dort sitzen!“ (Pause) – Aber jetzt sitzt dort keiner!

„Verweigerung!?“

Sabotieren engstirnige Akteure vom Land die äußerste Inszenierung der Wirklichkeit in diesem Haus: Die Adaption des „Fladererhauses“ als Ausstellungsbühne. Soll das „Tableau vivant“, das „installativ-theatrale Environment“ unvollständig bleiben? Soll ein Riss gehen zwischen alltäglichem Leben, künstlerischer Aktion und philosophischem Diskurs? (Pause)
Sollte es so kommen – haben Sie das zu verantworten. Denn von Ihnen und über Sie wurde diese Ausstellung eigentlich gemacht. Damit Sie sich besser wiedererkennen. Und Sie Ihre Identität endlich finden. (Pause)

Aber jetzt im Ernst und unter uns:
„Ist Kunsttheorie nicht weniger verständlich als die Kunst selbst?! – Fragezeichen. Ausrufungszeichen. Der Kultur- und Kunstphilosoph Erwin Fiala hat es geschrieben. In einem Leuchtkasten und in limitierter Auflage.

„Brauchen wir nicht? Haben wir schon?“ (Pause)

Kunst ohne Erkenntnisstreben, ohne höheren Sinn, wäre seinen Betrachtern zu wenig gewesen. Wenn etwa auf einem Gemälde des florentinischen Meistermalers Bronzino – aus dem 16. Jahrhundert – die Hauptfiguren Venus und Amor einen Zungenkuss tauschen, so dachten belesene Betrachter des 16. Jahrhunderts vielleicht an den „Hofmann“ von Baldasare Castiglione. In diesem Handbuch über die ideale höfische Gesellschaft erklärte der Sprachschöpfer, katholische Kirchenmann und oberster Kunsttheoretiker des Landes, Pietro Bembo, die Vorzüge einer rein geistigen platonischen Liebe zwischen Mann und Frau. Das Plädoyer endet in einer Hymne auf den Zungenkuss: Der sei erlaubt und sogar erwünscht, denn von Mund zu Mund sprächen die Seelen zueinander.

Das wäre – glauben Sie mir! – Niemals! – Ohne Kunsttheorie – ohne performativ-diskursive Intervention im „Fladererhaus“ – in Hart – zur Sprache gekommen.

Also: Enjoy the exhibition!


Lit.:
Berliner Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Giorgio Vasari („Le vite“)



[ TOO FAR - Positionen aus der Vorstadt ]

"Als Initiator und künstlerische Leitfigur von K.U.L.M. hat Richard Frankenberger in Pischelsdorf gemeinsam mit seinen Künstlerkollegen und Mitstreitern der Kunst im öffentlichen Raum abseits urbaner Strukturen Gehör und Sichtbarkeit verschafft. Dabei hat er mit dem, nach dem knapp 1000 Meter hohen Kulm als markanten oststeirischen Geländepunkt benannten Künstler- und Kuratorenkollektiv eine überregional und international ausgerichtete Projektkunst und -kultur entwickelt, die seit mehr als 14 Jahren in Ausstellungen, Aktionen und Symposien die soziale und gesellschaftliche Funktion von Kunst in den Vordergrund stellt. Außerhalb des städtischen und institutionalisierten Kunstbereiches verwirklichte Frankenberger mit K.U.L.M. eine praxis- und lebensnahe künstlerische Haltung, die sich an den realen Alltagsbedingungen und –konflikten zu erproben und bewähren hatte. Ausgehend von Josef Beuys erweitertem und politisiertem Kunstbegriff hat er sich als widerständige Integrationsfigur interdisziplinärer und diskursiver Kunst erwiesen und dabei kontinuierlich sein eigenes Oeuvre erarbeitet, das untrennbar von seinem kunst- und realpolitischem Engagement zu sehen ist.

Die retrospektiv angelegte Ausstellung zeigt erstmals einen repräsentativen Einblick in Frankenbergers künstlerische Entwicklung anhand von Objekten, Installationen, Foto- und Videoarbeiten, die sowohl im Zuge seiner Aktivitäten für K.U.L.M., wie auch unabhängig davon entstanden sind. Landschaft und Natur gehören dabei als unmittelbare menschliche Lebens- und Erfahrungsräume zu den Grundthemen, die vom Künstler in aktuelle gesellschaftspolitische Zusammenhänge gestellt und damit jeder idyllisierenden Verklärung entzogen werden. Das performative Erwandern der Landschaft und das Intervenieren in den Naturraum durch künstlich-künstlerische Objekte und Installationen, sind dabei nicht Zeichen von Weltflucht und Rückzug ins Private, sondern im Gegenteil aufklärerische Strategien, die das Spannungverhältnis zwischen individuellen und kollektiven Interessen beleuchten. Die Natur wird als ökonomisch und wissenschaftlich erschlossene Ressource erkennbar gemacht, sie wird zum Spiegelbild zivilisatorischer Zu- und Eingriffe, bewahrt aber in Frankenbergers künstlerischen Interpretationen immer auch ein Potenzial als Gegenbild und Alternative zur bloßen Rationalisierung und Instrumentalisierung der Umwelt.

Um das dialogische Verhältnis von Kunst und Leben zu verdeutlichen, thematisiert Frankenberger nicht nur alltagsgeschichtliche Abläufe, sondern bindet er auch vielfach Gebrauchsgegenstände in seine Arbeiten ein. Er hinterfragt und verändert deren konventionelle Funktionen, wodurch dem Betrachter neue Perspektiven auf sein Umfeld und auf sein Verhalten darin ermöglicht werden. Ob es sich um eine aus dem architektonischen Zusammenhang in die Landschaft transferierte Treppe (Nomadin), oder um einen mit Landkarte versehenen Wanderstock handelt, beide male wird - auf eine für Frankenbergers gesamtes Werk charakteristische Weise - das Naturerlebnis auf zivilisatorische Rahmenbedingungen bezogen und durch Kunst als soziokulturell bestimmtes Phänomen kenntlich gemacht."

Rainer Fuchs, zur Ausstellung "TOO FAR - Positionen aus der Vorstadt", 2007
Dr. Rainer Fuchs ist Ausstellungskurator und stv. Leiter des Museums Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien